„Ich wusste ganz genau, was da auf mich zukommt.“ Lothar Letsche im Gespräch

von Mirjam Schnorr

Das Forschungsprojekt Verfassungsfeinde im Land? steht mit den vom „Radikalenerlass“ Betroffenen im Austausch, um die wissenschaftlichen Forschungen anhand des überlieferten archivalischen Quellenmaterials durch Eindrücke des persönlich Erlebten zu ergänzen und zu vervollständigen.

Die Gespräche mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen geben gleichermaßen Einblicke dahingehend, wie der „Radikalen“- bzw. „Schiess-Erlass“ hier im Südwesten die Lebensläufe zahlreicher junger Menschen, die etwa am Übertritt vom Studium ins Berufsleben standen, beeinflussen konnte. Im März 2020 besuchte Lothar Letsche die Mitarbeiterinnen in den Räumlichkeiten des Forschungsprojekts in der Heidelberger Altstadt und berichtete konzise und unmittelbar von seinen ganz eigenen Erfahrungen mit der Frage nach der „Radikalen-Abwehr“ im Baden-Württemberg der 1970er-Jahre und deren Nachgeschichte.

Lothar Letsche, geboren 1946 in Tübingen und wohnhaft in Weinstadt bei Waiblingen, wuchs, nachdem sich die Eltern getrennt hatten, bei seiner Mutter in Stuttgart auf. Das Verhältnis zu seinem Vater, Curt Letsche, beschreibt er als zeit seines Lebens „kompliziert“. Curt Letsche war im „Dritten Reich“ aufgrund seines politischen Widerstands gegen das nationalsozialistische Regime verfolgt worden und hatte wegen des Vorwurfs der „Vorbereitung zum Hochverrat“ eine sechsjährige Haftzeit im Zuchthaus Ludwigsburg verbüßen müssen. Diese und andere Erlebnisse verarbeitete er nach dem Krieg als Autor zahlreicher Romane. Trotz der teilweise schwierigen Beziehung spielte der Vater – so betont Lothar Letsche – durchaus eine „gewisse Rolle“ in seinem Leben. Die Erfahrungen des Vaters als Verfolgter des Nationalsozialismus und dessen Entscheidung nach 1945, in die DDR überzusiedeln, prägten auch den Lebensweg und die politische Einstellung Lothar Letsches zu einem nennenswerten Teil. Nach dem Besuch des Gymnasiums und dem Abitur 1966, studierte Letsche die Fächer Anglistik, Klassische Philologie, Geschichte und Politikwissenschaften an den Universitäten in Tübingen, Frankfurt am Main, Stuttgart und Bristol (GB). Zwischenzeitlich arbeitete er für zwei Jahre als foreign language assistant in Wales und England. 1977 beendete Letsche sein Hochschulstudium erfolgreich an der Universität Stuttgart mit dem Magisterabschluss in Anglistik und Geschichte. Zwei Jahre zuvor hatte er gleichfalls das Erste Staatsexamen abgelegt und damit die Berechtigung erlangt, sich als Referendar für das Lehramt zu bewerben.

Lothar Letsche im Zeitzeugeninterview am 6. März 2020 in Heidelberg. Screenshot.

Mit dem „Radikalenerlass“ in Baden-Württemberg kam Letsche schon einige Zeit vor seinem Universitätsabschluss, genauer gesagt während seiner frühen Studienphase in Stuttgart, in Berührung: Der Fall Johannes Meyer-Ingwersens, der seit 1971 als Assistent am dortigen Institut für Linguistik/Germanistik beschäftigt und 1973 für die Position eines Akademischen Rates u. a. wegen seiner DKP-Mitgliedschaft abgelehnt worden war, wurde an der Universität Stuttgart prominent verhandelt und diskutiert. Letsche – 1972 Gründer der GEW-Hochschulgruppe in Stuttgart und politisch aktiv im MSB Spartakus – engagierte sich für Meyer-Ingwersen, den er rückblickend als „Sprachgenie“ und „Arbeitstier“ beschreibt. Gemeinsam mit zahlreichen Kommilitonen brachte Letsche vielfältig seine Solidarität für Meyer-Ingwersen zum Ausdruck: Die Studierenden wollten Meyer-Ingwersen, „den Johannes“, „da behalten“. Dessen Ablehnung in Stuttgart blieb jedoch letzten Endes trotz der zahlreichen Proteststimmen wirksam und resultierte in seinem Wechsel 1974 an die Universität Duisburg.

Weil Lothar Letsche sich allerdings bereits im „Berufsverbots“-Fall Meyer-Ingwersen stark gemacht und sich bewusst „politisch eingemischt“ hatte, ahnte er deutlich, was sich nach dem Studienabschluss und seiner Bewerbung um ein Referendariat auch für ihn abzuzeichnen drohte: „Ich wusste ganz genau, was da auf mich zukommt“, sagt er hierzu im Rückblick. Nicht umsonst hatte er, „in weiser Voraussicht“, noch zusätzlich den Magistergrad erworben, um notfalls für eine andere Tätigkeit genauso wie für jene des Lehrers qualifiziert zu sein. Im März 1977 bewarb er sich sodann aber wie vorgesehen erst einmal bei dem für ihn zuständigen Oberschulamt Stuttgart um die Zulassung zum Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien. Anschließend erfolgte regulär seine Überprüfung auf Basis der Grundsätze des „Radikalen“- bzw. „Schiess-Erlasses“. Das Landesamt für Verfassungsschutz teilte in diesem Zusammenhang dem Innenministerium mit, dass Letsche zumindest zwischen den Jahren 1969 und 1974 Mitglied der DKP gewesen sei und an Veranstaltungen dieser Partei ebenso wie an Zusammenkünften des MSB Spartakus partizipiert habe. Für den MSB Spartakus soll er gleichermaßen 1972 bei Wahlen an der Universität Stuttgart kandidiert haben. Auch sei er für diverse Flugblätter, etwa der Spartakus Assoziation marxistischer Studenten in Frankfurt am Main, verantwortlich im Sinne des Presserechts gewesen.

Das Innenministerium leitete die vom Verfassungsschutz mitgeteilten Erkenntnisse über Letsche im Anschluss an das Oberschulamt Stuttgart weiter, woraufhin dieser von der Schulbehörde zur Stellungnahme aufgefordert wurde. In der anschließenden Anhörung im Oberschulamt – zu der ihn sein Anwalt begleitete und von der Letsche heute sagt, dass er annähernd „darauf vorbereitet [war], was ungefähr passier[en]“ würde – verweigerte er es, genaue Angaben hinsichtlich der gegen ihn vorgebrachten Erkenntnisse zu machen. Er erklärte im Zuge dessen z. B.: „Ich halte es für bedenklich, daß das Innenministerium sogenannte Erkenntnisse mitteilt, die es nur von anonymen Informanten bezogen haben kann. Noch bedenklicher erscheint mir, daß die Behörden diese Erkenntnisse zum Gegenstand verhörartiger Gespräche macht.“ Auch Fragen nach seiner Parteienmitgliedschaft ließ Letsche unbeantwortet und bezeichnete diese als „verfassungswidrig“. Seine tatsächliche Haltung zur Verfassung der Bundesrepublik – ein Thema, das laut Letsches Meinung angesichts des Vorwurfs, er sei ein „Verfassungsfeind“, viel eher hätte diskutiert werden müssen – stand während der Anhörung allerdings nicht zur Debatte. Andere Vorhaltungen der Anhörungskommission wies Letsche überdies als zu „pauschal“ oder „unzutreffend“ zurück. Zudem rekurrierte er auf seine Eltern und deren Erfahrungen mit dem „Nazi-Regime“, welche auch seine Sichtweise auf staatliches und behördliches Handeln beeinflusst hatten. Er bestritt außerdem, für den MSB-Spartakus kandidiert zu haben; vielmehr habe es sich laut seinem Dafürhalten um eine Aufstellung für die Fachschaft Geschichte an der Stuttgarter Universität gehandelt. Aufgrund von Letsches Aussagen war der Verfassungsschutz in der Folge dazu angehalten, die vorliegenden Erkenntnisse in seinem Fall erneut zu prüfen – sie wurden jedoch von diesem auch nach Abschluss der neuerlichen Untersuchung des Sachverhalts weitestgehend aufrechterhalten.

Am 9. August 1977 lehnte das Oberschulamt Stuttgart dann Letsches Antrag auf Zulassung zum Vorbereitungsdienst ab. Die Zweifel, die an seiner Verfassungstreue geäußert worden waren, galten auch infolge der Stellungnahme und Anhörung als nicht ausgeräumt. Insbesondere seine „Weigerung, sich von den verfassungsfeindlichen Zielsetzungen der SDAJ, des MSB Spartakus und der DKP zu distanzieren“, hatte laut dem Oberschulamt diesen Eindruck noch bestärkt. Nach dem zunächst von Letsche eingelegten Widerspruch gegen diese Entscheidung und die daraufhin ergangene Abweisung des Widerspruchs durch das Oberschulamt, reichte Letsche vor dem Verwaltungsgericht in Stuttgart Klage ein. Diese Klage wurde dann mit Urteil von Mitte Mai 1978 negativ beschieden. Letsche ging gegen das Urteil in Berufung und der Fall kam vor den Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, der schließlich am 31. März 1981 ebenfalls zu Letsches Ungunsten urteilte. Der Richterspruch hielt fest, dass die „Entscheidung des Oberschulamts, den Antrag des Klägers auf Zulassung zum Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien wegen Zweifeln an seiner Verfassungstreue abzulehnen, […] an keinem Rechtsfehler [litt]“ und dass die jeweilige „Einstellungsbehörde bei der Prüfung der Verfassungstreue von Beamtenbewerbern“ berechtigt sei, „Erkenntnisse des Landesamts für Verfassungsschutz über eine Mitgliedschaft in einer Partei mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung widerstreitenden Zielen (hier: DKP)“ heranzuziehen. Letsche selbst gibt – auch unter Hinweis auf seinen damaligen Anwalt und dessen Einsicht in interne Akten – an, dass jenes Urteil des Verwaltungsgerichtshofs tatsächlich schon auf den 26. Februar datiert war, die Entscheidung in seinem Fall also bereits über einen Monat vor der eigentlichen Verhandlung vom Gericht gefällt worden war. Damit seien die etwaigen zu seiner Verteidigung dienenden Aussagen gegenüber den Richtern im Grunde genommen irrelevant gewesen. Das Urteil über Letsche von 1981 wies überdies z. T. wortwörtliche Übereinstimmungen mit anderen gerichtlichen Entscheidungen in vergleichbaren Fällen auf – „Fließbandurteile“ der Mannheimer Gerichtsinstanz, wie Letsche sie zurückblickend bezeichnet.

Insgesamt rief das Verfahren Lothar Letsches ein sehr großes öffentliches Interesse hervor und löste eine breite Welle der Solidarität aus. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) beispielsweise „stand immer hinter“ ihm und leistete tatkräftige Unterstützung bei den Vor- und Nachbereitungen zu seinem Prozess. Letsche berichtet in der Retrospektive hierzu: Wenn er mit seinen Mitstreitern nicht gezielt einen „öffentlichen Skandal aus der Sache“ gemacht hätte, wäre ihm gar „keine Chance“ geblieben. Und auch international – etwa im englisch- und französischsprachigen Ausland – wurde Letsches „Berufsverbots“-Verfahren damals stark wahrgenommen sowie durch ihn selbst z. B. mittels Auftritten bei öffentlichen Veranstaltungen publik gemacht.

Während sein Verfahren jedoch Ende der 1970er-Jahre in Stuttgart noch lief, hatte sich Letsche bei der Arbeitssuche umorientiert und war 1978 als Verlagsredakteur zu einem Schulbuchverlag für den Fremdsprachenunterricht in Dortmund gekommen. Dort, wo man nichts von seiner Ablehnung als Lehrer im „Ländle“ wusste und er selbst damit gleichermaßen kein „Aufsehen erregen“ wollte, blieb Letsche bis 1980. Dass seine ganze „Geschichte“ in Dortmund letztlich „nicht ankam“, beschreibt Letsche heute als „riesen Glück“. So konnten ihm dadurch im neu geschlossenen Arbeitsverhältnis zumindest keine Nachteile entstehen. Letsches Gerichtsverhandlung in Stuttgart in Bezug auf seine Ablehnung als Referendar in Baden-Württemberg fiel allerdings noch in die Probezeit beim Dortmunder Verlag. Im Herbst 1980 schließlich bewarb sich Letsche wieder weg vom Verlagswesen und versuchte es erneut mit einer Bewerbung als Studienreferendar – dieses Mal in Nordrhein-Westfalen. Angesichts des dortigen positiven Bescheids hätte er anschließend tatsächlich noch die Möglichkeit gehabt, seinen Vorbereitungsdienst abzulegen. Hierzu wäre ein Umzug nach Wuppertal nötig gewesen. Ihn als „Schwabe“ allerdings zog es – zuvorderst auch wegen familiären Gründen – nach der Zeit in Dortmund zurück in den Südwesten.

Mit Lothar Letsche im Gespräch am 6. März 2020 in Heidelberg.

Doch damit war Letsches „Geschichte“ mit der „Berufsverbote“-Praxis in Baden-Württemberg noch nicht zu Ende: Im Januar 1981 trat er eine Stelle als wissenschaftlicher Angestellter am Deutschen Institut für Fernstudien (DIFF) in Tübingen – einem Bund-Länder-finanzierten Lehrinstitut – an. Die Berufungsverhandlung vor dem Mannheimer Verwaltungsgerichtshof fand erneut in der Probezeit statt. Während eben dieser Probezeit sollte Letsche dann auch noch – im Juli 1981 – vom DIFF eine Kündigung erhalten. Die Begründung des DIFF-Vorstandes lautete darauf, dass Letsche gemäß seinem Arbeitsvertrag in Anlehnung an den Bundesangestelltentarif (BAT) beschäftigt und vergütet worden war. Gemäß BAT sei „ein Angestellter“ verpflichtet, sich „durch sein gesamtes Verhalten zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen“. Weil Letsche sich aber gleichzeitig weiterhin mit den „Zielen der DKP“ identifiziert habe, wurde ihm nun vorgeworfen, er habe „treuwidrig“ gehandelt“. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am DIFF, einer Institution die „wesentlich der staatlichen Aufgabe der Lehrerbildung dient“, müsse er die vorgeschriebene „Treuepflicht“ erfüllen – so die weitere Argumentation in der Kündigung. De facto hatte es allerdings, so betont Letsche, am DIFF nie eine „Treupflicht“-Erklärung, wie im BAT vorgeschrieben, gegeben. Letsche strengte in Bezug auf diese Kündigung eine Klage vor dem Arbeitsgericht Reutlingen an. Hierbei sollte die Frage, ob der „Radikalenerlass“ auch auf Angestelltenverhältnisse im privaten Arbeitssektor anzuwenden sei, einer Klärung unterzogen werden. Das Arbeitsgericht Reutlingen sah in der Folge in der Beschäftigung am genannten Forschungsinstitut „unstreitig kein[en] öffentlichen Dienst“, sodass Letsche bis zur Hauptverhandlung am 8. September 1981 vorerst weiterhin am DIFF beschäftigt blieb. Zudem hatte sich der Betriebsrat in dieser Sache zuvor eine findige Lösung ausgedacht: Letsche war angesichts der berechtigten Befürchtungen, dass ihm eine Kündigung bevorstehen könnte, von diesem unter Rückgriff auf das Betriebsverfassungsgesetz als Wahlvorstandsmitglied eingesetzt worden und genoss damit Kündigungsschutz. Letsche sagt darüber heute scherzhaft: „Wir haben die [gemeint sind damit jene, die für die „Berufsverbote“ im Zuge des „Radikalenerlasses“ verantwortlich waren] reingelegt.“ Ungeachtet dieser Wendung, entschied das Arbeitsgericht letztlich zu seinen Gunsten und Letsche blieb auch für die folgenden dreißig Jahre Angestellter am Tübinger DIFF – bzw. dem im Jahr 2000 auf Empfehlung des Wissenschaftsrates gegründeten Institut für Wissensmedien (IWM) der Leibniz-Gemeinschaft, das an die Stelle des DIFFs trat. Letsche engagierte sich nebenbei zwischen 1984 und 2001, also beinahe zwei Jahrzehnte lang, im Betriebsrat des Forschungsinstituts und war zeitweise dessen Vorsitzender. Das Mandat des Betriebsrats war, wie er heute anmerkt, auch ein gezielter „Schutz“ vor erneuten Konflikten als Arbeitnehmer mit seinen Vorgesetzten.

Unterbrochen wurde Letsches Tätigkeit am DIFF/IWM dann allerdings noch ein weiteres Mal Anfang der 2000er-Jahre. Diese Zeit bezeichnet Letsche rückblickend als die Abfolge „einige[r] recht merkwürdige[r] Dinge“ am Forschungsinstitut: Nachdem er zunächst geplant hatte, in Altersteilzeit zu gehen, um eine etwaige Dissertationsschrift zu verfassen, und in diesem Zusammenhang allerdings wegen eines Schriftsatzes seines Anwaltes – auch in dieser Sache war Letsche gezwungen gewesen, den Klageweg zu beschreiten – von der Leitung abgemahnt worden war, erhielt er am 11. März 2003 erneut eine Kündigung. Dieses Mal wurde er „außerordentlich aus wichtigem Grund“ zum Ende des Septembers 2003 gekündigt, wegen seiner Tätigkeit als Beisitzer in einer Sozialplan-Einigungsstelle nach dem Betriebsverfassungsgesetz. Diese „Nebentätigkeit“ Letsches sei durch den Arbeitgeber nicht genehmigt worden, folglich hätte er diese laut der Argumentation des IWM-Vorstandes nicht ausüben dürfen. Letsche wurde auf Basis dieses Kündigungsverfahrens – bis Ende September 2003 war er freigestellt – außerdem aufgefordert, sein Büro in den Räumlichkeiten des Forschungsinstituts freizumachen. Die örtliche DGB-Niederlassung in Tübingen gewährte ihm währenddessen einen „Asylstandort“, ein „Interimsbüro“, von dem aus er weiterhin seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Angestellter nachgehen konnte. Das Arbeitsgericht Reutlingen erklärte im Zuge der Kündigungsschutzklage Letsches im Oktober 2003 auch diese Kündigung für unwirksam und ließ damit gerichtlich offiziell verlautbaren, dass eine „schuldhaft oder fahrlässig“ von Letsche „herbeigeführte Kündigung nicht vorlag“. Die Kündigung Letsches war „arbeitsrechtlich vollkommen abwegig“ gewesen und lässt vermuten, dass man ihn mit allen Mitteln „loszuwerden“ suchte. Letsche kehrte nach dem Urteilsspruch des Arbeitsgerichts am 9. Oktober 2003 an das IWM zurück und arbeitete weiter „als wäre nichts geschehen“. Am 25. März 2011 absolvierte er dort schließlich seinen letzten Arbeitstag und ging hiernach in Rente. Er machte einen „Strich“ unter die gesamte Angelegenheit und betrat das Forschungsinstitut in der Folge nie wieder.

In seinem Ruhestand bleibt Letsche politisch und zivilgesellschaftlich aktiv. Er ist z. B. Mitglied und Mitbegründer der Initiative „40 Jahre Radikalenerlass“ sowie der inhaltlich verantwortliche Betreiber der Webseite berufsverbote.de, die „dem bundesweiten Arbeitsausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote und zur Verteidigung demokratischer Rechte“ dient. Letsche war es auch, der Ministerpräsident Winfried Kretschmann – einst selbst Betroffener des „Radikalenerlasses“ – bei der Landesdelegiertenversammlung der GEW Baden-Württemberg in Sindelfingen am 20. April 2012 ein Stofftier der „Anti-Duckmaus“, das Maskottchen der Initiative „40 Jahre Radikalenerlass“ und mithin ein Symbol der kritischen Linken seit den 1970er-Jahren, überreichte. Er trat auch in jüngerer Zeit häufig öffentlich im In- und Ausland in der Sache der Betroffenen des „Radikalenerlasses“ auf. Er war außerdem zwischen 2007 und 2011 Vorsitzender der Fachgruppe Hochschule und Forschung der GEW Baden-Württemberg und ist heute für die GEW Mitglied des DGB-Kreisvorstandes Tübingen. Überdies fungiert er als Mitglied des geschäftsführenden Landesvorstands der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA e. V.). Wir danken Lothar Letsche für das Gespräch.

Zum Weiterlesen

Akten zum Fall Lothar Letsche im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und im Hamburger Institut für Sozialforschung.

Darstellung des Falls von Lothar Letsche für den Runden Tisch in Baden-Württemberg im Juni 2015 und weitere Informationen hierzu sowie zum übergeordneten Thema des „Radikalenerlasses“ auf der Homepage berufsverbote.de, abrufbar unter: http://www.berufsverbote.de.

„Radikale. Neue Variante“, in: Der Spiegel 35, 1981, S. 55 f.

Rede von Lothar Letsche vor dem am 5. Dezember 2018 vor dem Landesamt für Verfassungsschutz in Stuttgart, abrufbar unter: https://esslingen.vvn-bda.de/2018/12/07/rede-von-lothar-letsche-vor-dem-landesamt-fuer-verfassungsschutz/.

Schulze, Dietrich, Olivgrün gewendeter Landespatriarch, in: Neue Rheinische Zeitung Online, 19.12.2012, abrufbar unter: http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=18537.

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